PSZ NRW
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    Gemeinsames Statement des Netzwerk Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer in NRW

    zu Früherkennung  und Versorgung in Landesunterkünften anlässlich des NRW-Asylstufenplans

    Das Statement wurde bei einem PSZ-NRW-Treffen am 07. August 2018 in Düsseldorf erarbeitet und anschließend  per Email mit den unterzeichnenden PSZs abgestimmt.

    1. Aus jahrelanger Erfahrung mit kommunaler Gemeinschaftsunterbringung wissen wir, dass diese Unterbringungsform in vielen Fällen eine Zusatzbelastung darstellt, insbesondere für Menschen mit schweren Gewalterlebnissen bzw. psychischen Erkrankungen. Aufgrund der Erfahrungen in der Arbeit mit psychisch stark belasteten Asylsuchenden ist es uns wichtig, auf die gesundheitsschädlichen Auswirkungen eines längeren Aufenthalts in Gemeinschaftsunterkünften Faktoren wie eingeschränkte Privatsphäre, fehlender Rückzugsraum, Unsicherheitsgefühl, Gemeinschaftsversorgung, Gemeinschaftsbäder, Wohnsitzauflage, Arbeitsverbote, Ausschluss von Bildungsmöglichkeiten, verursachen in vielen Fällen eine unverhältnismäßige Mehrbelastung. Diese wirken sich auch bei vormals gesunden Menschen krankheitserzeugend aus und schränken bei Menschen mit traumatischen Erfahrungen die Möglichkeiten zur eigenständigen Verarbeitung der Erlebnisse ein. So lässt sich fachlich prognostizieren, dass verlängerte Aufenthalte in Landesunterkünften vorhersehbar gesundheitsschädigende Auswirkungen haben. Dies wird zusätzliche Therapiebedarfe schaffen und zu psychischen Krisensituationen beitragen. Therapeutische Angebote können, wenn gleichzeitig die Unterbringung zu starken Belastungen führt, gesundheitliche Verschlechterungen nicht ausreichend auffangen. Krisenhafte Verschlechterungen sind insbesondere bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, ehemaligen Häftlingen und Menschen mit Folter- und Lagererfahrungen zu erwarten, da sich bei ihnen kasernenartige Unterbringungen,  Gitter, beobachtete Gewalt und Polizeieinsätze oft erheblich belastend auswirken.  Aufenthaltszeiten in Landesunterkünften sollten daher aus fachlich psychosozialer Sicht so kurz wie möglich gehalten werden. Die Gesundheit eines Menschen zu erhalten, zu verbessern und nicht durch die Unterbringung zu einer Verschlechterung der Gesundheit beizutragen, sollte Priorität haben.
    2. Eine Identifizierung besonders schutzbedürftiger Personen ist nach EU-Aufnahmerichtlinie Landesaufgabe. Mit der Eröffnung der LEA in Bochum etwa konnte eine Erfassung vieler Schutzbedarfe systematisiert und zentralisiert werden. Bislang mangelt es aber weiterhin an einer systematischen und zuverlässigen Identifizierung im Unterbringungssystem, insbesondere von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und Überlebenden von Menschenhandel, Folter, Vergewaltigung und allen Formen psychischer und sexualisierter Gewalt. Bei vielen unserer Klient*innen sind diese Schutzbedarfe erst spät und im Rahmen unserer Betreuung festgestellt worden.
      Durch die Tatsachen, dass a) bisher eine frühzeitige, systematische und flächendeckende Identifizierung vulnerabler Personen fehlt,  b) beschleunigte Verfahren eingeführt und Abschiebeprozesse optimiert wurden, und c) nun  Unterbringungsbedingungen für Flüchtlingsgruppen deutlich verschärft werden, ergibt sich eine kritische Gesamtsituation, die soziale Konflikte und ggf. Eskalationen vor Ort vorhersehbar machen. Im Interesse aller Beteiligten muss daher eine frühzeitige Identifizierung der besonders Schutzbedürftigen gewährleistet werden – schnellstmöglich. Die PSZs bringen ihre Expertise in diesen Prozess ein (siehe Punkt 7).
    3. Wir halten es für unerlässlich, dass für ein Screening zur Identifikation psychischer Erkrankungen in Unterkünften ein speziell geschultes sowie qualifiziertes Fachpersonal eingesetzt wird. Hierzu werden dringend offizielle Leitlinien benötigt, die ein qualifiziertes, sachgerechtes und unabhängiges Screening gewährleisten. Ganz besonders die Menschen, deren Asylanträge im beschleunigten Verfahren entschieden werden, brauchen frühzeitig ein solches Screening und bei möglichem Bedarf die Gewährleistung eines Zugangs zu Diagnostik und Versorgung. Auch Hinweise auf Vulnerabilität und Auffälligkeiten, die von Außenstehenden wie z.B. Beratungsstellen, Ehrenamtlichen, Ärzt*innen und Therapeut*innen vorgebracht werden, sollten in Einzelfällen Anlass für ein strukturiertes Screening, bzw. Clearingverfahren sein. Auf Grund des gehäuften Auftretens von Posttraumatischer Belastungsstörung mit verzögertem Beginn, bedingt durch die Lebenssituation von Geflüchteten, wird in Einzelfällen auch die spätere Wiederholung eines Screenings notwendig werden. Die PSZs können mit ihren langjährigen Erfahrungen einen wichtigen Beitrag zur Qualifizierung und Supervision des zum Screening eingesetzten Fachpersonals in den Landesunterkünften leisten.
    4. Hinsichtlich der Umsetzung des Erlasses, halten wir eine konsequente und schnelle kommunale Zuweisung von schutzbedürftigen Personen, insbesondere von Personen im beschleunigten Verfahren, für dringend geboten.
      Aktuell erhalten die PSZs, ohne dass ihre Angebote beworben werden, bereits mindestens 3 Mal mehr Anfragen von kommunal zugeteilten Geflüchteten, als sie versorgen können. Bislang ist auch aus diesem Grund der Anteil der Klient*innen aus den Landeseinrichtungen in den meisten der PSZs, neben wenigen Ausnahmen mit einem höheren Anteil, gering. Zum Teil mussten Anfragen zur Aufnahme von Klient*innen aus den Landesunterkünften aufgrund mangelnder Kapazität abgelehnt werden. Aktuell hängt eine stärkere Kooperation und eine sinnvolle Weiterleitung an PSZs aus Landeseinrichtungen von lokalen Bedingungen ab und nicht zuletzt vom Engagement von Einzelpersonen, die bei den Betreiberorganisationen, als Verfahrensberater bei den Wohlfahrtsverbänden oder als Sozialbetreuer der Betreuungsvereine in den Unterbringungseinrichtungen beschäftigt sind.
    5. Aufgrund der hohen Belastung, die den Bewohner*innen durch eine langfristige Unterbringung in Landeseinrichtungen entsteht, ist es dringend erforderlich, dass für diese der Zugang zu einer fachlich fundierten Beurteilung von Behandlungsbedarfen und Behandlungsmöglichkeiten sichergestellt wird. Neben Behandlungsscheinen gehören dazu auch die Erstattung von Dolmetscherkosten, Fahrtkosten und ggf.  eine Sicherstellung von Fahrservice.
      In den PSZs könnten bei Bereitstellung der o.g. Leistungen und Erweiterung der bestehenden Kapazitäten in entsprechendem Umfang Einzelgespräche zur Feststellung des jeweiligen Behandlungsbedarfs durchgeführt werden. Doch zur Sicherstellung der notwendigen Behandlungen braucht es für die Bewohner*innen der Landesunterkünfte einen unkomplizierten Zugang zur fachärztlichen und psychotherapeutischen Regelversorgung. Die Versorgung im Regelsystem scheitert weiterhin in vielen Fällen sowohl an Sprachbarrieren und Missverständnissen, als auch daran, dass ihre Lebensumstände Asylsuchende zu arbeitsintensiven Patient*innen machen. Die PSZs bringen sich in die bessere Vernetzung vor Ort ein, können aber nicht immer die erwünschte tatsächliche Öffnung gegenüber geflüchteten Patient*innen bewirken, beispielsweise bei den Psychiatrien vor Ort. Daher braucht es eine von Landesseite gefordert und geförderte enge Kooperation und Vernetzung zwischen den Betreiberorganisationen, den zuständigen Institutsambulanzen und allgemeinen und psychiatrischen Kliniken vor Ort mit ihren vorhandenen stationären und ambulanten Angeboten.
    6. Es ist absehbar, dass aufgrund der großen Belastungen durch verlängerte Aufenthalte in Landesunterkünften und des gestiegenen Ausreisedrucks auch in den PSZs zusätzliche personelle Kapazitäten benötigt werden, um eine zeitnahe Bearbeitung von Clearinganfragen aus Landeseinrichtungen zumindest in Ansätzen gewährleisten zu können.
    7. Die PSZs können ihre Expertise im professionellen Einsatz von Sprachmittler*innen, im Erkennen von psychischen Belastungen und Traumafolgestörungen, in transkultureller Kompetenz und in der Behandlung von Geflüchteten mit psychischen Belastungen in Fortbildung und Supervision an  Betreuungsvereinen, Betreiberverbänden und Personal der Medical Center weitergeben.

    Düsseldorf, den 04.09.2018

    Zugestimmt haben alle PSZ-Teams des PSZ-NRW Netzwerkes:

    PSZ Aachen
    PTZ Ahlen
    PSZ Bielefeld
    MHF Bochum
    PSZ Mondial Bonn
    PSZ Dortmund
    PSZ Düsseldorf
    PSZ Hagen
    TZFO Köln
    PSZ Lüdenscheid
    PSZ Mönchengladbach
    Refugio Münster
    PSZ Niederrhein –  Moers
    PSZ Niederrhein – Dinslaken
    PSZ Paderborn
    PSZ Siegen

     

    Literatur

    Baron, J., & Schriefers, S. (2015). Versorgungsbericht-Zur psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen und Folteropfern in Deutschland Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF eV).

    Bozorgmehr, K. & Razum, O. (2015). Effect of Restricting Access to Health Care on Health Expenditures among Asylum-Seekers and Refugees: A Quasi-Experimental Study in Germany, 1994–2013. PLOS ONE, 10(7).

    Bundestag, D. (2016). Stellungnahme der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer-BAfF eV.

    Schellong, J., Epple, F., & Weidner, K. (2016). Psychosomatik und Psychotraumatologie bei Geflüchteten und Migranten. Der Internist, 57(5), 434-443.

     

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    Keine Abschiebungen nach Afghanistan

    Gemeinsame Erklärung Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer in NRW

    2017

    An
    die Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel,
    den Bundesminister für Inneres, Thomas de Maizière,
    den Bundesminister des Auswärtigen als Leiter des Auswärtigen Amts, Sigmar Gabriel,
    den NRW-Ministerpräsidenten, Armin Laschet,
    den NRW-Innenminister, Herbert Reul,
    den NRW-Minister für Integration, Jugend, Kinder und Familie, Joachim Stamp

    Trotz laufender neuer Sicherheitsbewertung zur Lage in Afghanistan durch das Auswärtige Amt betont die Bundesregierung, dass die geplanten Abschiebeflüge derzeit nur ausgesetzt seien und verunsichert damit weiter die von dort geflüchteten Menschen. Im Rahmen des Fachtags der Psychosozialen Zentren in NRW mit dem Titel „Suizidprävention und Selbstfürsorge Psychosoziale Arbeit mit Flüchtlingen im Spannungsfeld mehrfacher Belastungen“ lehnen die unterzeichnenden Zentren Abschiebungen nach Afghanistan mit dieser Erklärung entschieden ab. Denn die psychischen und sozialen Schäden, die die Bundes- und die Landesregierung NRW mit den angedrohten Abschiebungen bei vielen Geflüchteten aus Afghanistan anrichten, sind massiv. Das zeigen uns die Geschichten der Menschen, die in unseren Zentren Unterstützung suchen.

    Mit 16 Jahren floh ein Klient, dessen Geschichte hier beschrieben werden soll, nach Deutschland. Zuvor hatte der in Afghanistan geborene unbegleitete minderjährige Flüchtling im Iran gelebt. Dorthin musste seine Familie nach dem ungeklärten Tod des Vaters zu einem Verwandten ziehen. Mit 15 Jahren wurde er nach jahrelanger Misshandlung durch diesen Verwandten als Kindersoldat an die syrische Front verkauft. Unter ständigen Todesängsten versuchte er in seiner Verzweiflung, sich dort das Leben zu nehmen. Dies missglückte. Bei einer günstigen Gelegenheit desertierte er und floh nach Deutschland. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte im Sommer 2016 seinen Antrag auf Asyl ab.

    Die Angst durch die Medienberichte
    Im September 2016 kam der junge Klient mit einer schweren Depression und suizidalen Gedanken zwecks therapeutischer Unterstützung in ein Psychosoziales Zentrum. Trotz traumatischer Erlebnisse und daraus folgender Posttraumatischer Belastungsstörung machte der Jugendliche in seiner Wohngruppe Fortschritte: Er fand Freunde, lernte die deutsche Sprache, suchte sich Hobbies. Als sich aber Anfang dieses Jahres der politische Diskurs über die Sicherheitseinschätzung Afghanistans und über eine „verschärfte Abschiebepraxis“ auch in den Medien verbreitete, begann sich der Klient zurück zu ziehen. Er vernachlässigte sowohl die Schule als auch sich selbst. Andauernd fühlt er sich von einer Abschiebung bedroht – und äußerte die Gedanken, sich das Leben nehmen zu wollen. Noch läuft das Klageverfahren gegen den negativen Bescheid.

    Es ist eine der vielen aktuellen Verlaufsgeschichten von afghanischen Geflüchteten, die in den Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folterüberlebende in NRW Hilfe suchen. Seit der ersten Sammelabschiebung nach Kabul am 15. Dezember 2016 kommen immer mehr KlientInnen in die Zentren. Für viele bedeutet die Ablehnung ihrer Asylanträge und die Verunsicherung durch den öffentlichen Diskurs einen totalen Zusammenbruch oder zumindest eine erhebliche Mehrbelastung.

    Was im bisherigen Diskurs kaum eine Rolle spielt: Aufgrund der unsicheren Perspektive aktualisieren sich die traumatischen Erfahrungen aus dem Herkunftsland. In der Regel hat ein Großteil der Geflüchteten ausreichend Ressourcen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verkraften, diese gehen aber mit dem aufkommenden Unsicherheitsgefühl oft verloren. Viele unserer KlientInnen, die zuvor stabil waren oder stabilisiert werden konnten, haben dann häufig erst durch die subjektive oder reale Angst vor einer Abschiebung akuten Therapiebedarf.

    Verstärkte Symptomatik durch drohende Abschiebungen
    Dramatisch ist die Lage für jene Menschen, die nicht nur subjektiv eine Abschiebung befürchten, sondern bereits eine reale Abschiebeandrohung erhalten haben. Sie haben massive Angst und häufig Suizidgedanken. In solchen Fällen, die zur Suizidprävention notwendigen verbleibenden Perspektiven zu vermitteln, erfordert von unseren PsychologInnen und SozialarbeiterInnen viel Kraft, die an anderer Stelle fehlt. Hinzu kommt, dass die meist nächtlich durchgeführten Abschiebungen bei den Betroffenen noch zu einer Verstärkung der Schlaflosigkeit führen, weil auch sie jede Nacht eine Abschiebung fürchten, selbst wenn sie auf Grund einer Fortführung des Verfahrens noch keine Abschiebung fürchten müssten.

    Eine 2016 erstellte Erhebung von den Psychotherapeutinnen Veronika Wolf und Eva van Keuk aus dem Psychosozialen Zentrum in Düsseldorf ging den Folgen von Abschiebeandrohungen bei KlientInnen und Behandelnden quantitativ auf den Grund. Wolf und van Keuk haben in ihrer Online-Umfrage 163 vorwiegend in Deutschland tätige Behandelnde aus dem ärztlichen, psychologisch-psychotherapeutischen und sozialen Dienst sowie der Pflege und Beratung, deren KlientInnen schon einmal von Abschiebung bedroht waren, nach den Auswirkungen der Androhung gefragt. Die PsychotherapeutInnen schätzen, dass die Befragten zwischen 2015 und 2016 etwa 3.000 Personen, die von Abschiebung in verschiedene Herkunftsländer bedroht waren, behandelt haben.

    92 Prozent der befragten Behandelnden gaben an, dass trotz geschütztem Behandlungssetting die drohende Abschiebung zu Angst und Unsicherheit bei den PatientInnen führte, 85 Prozent der Befragten gaben einen deutlichen Anstieg der Symptomatik an und noch 66 Prozent der Behandelnden antworteten, dass die Androhung zu einer Verlängerung der Behandlungsdauer führte.

    Die beiden Psychotherapeutinnen Wolf und van Keuk (s.o.) finden es dementsprechend fraglich, „ob es verhältnismäßig ist, bei einer 50- bis 100-fachen Anzahl an Patientinnen und Patienten durch drohende Abschiebungen Behandlungsverläufe zu verkomplizieren – mit dem Risiko von Chronifizierung und hohen Folgekosten im Gesundheits- und Sozialsystem –, eine hohe Zahl an Professionellen zu frustrieren und damit implizit die Zugangsbarrieren zu Angeboten der Gesundheitsversorgung für Patientinnen und Patienten mit unsicherem Aufenthalt weiter zu erhöhen.“ Die Unterzeichnenden sind der Ansicht, dass eine sichere Bleibeperspektive die Behandlung von Geflüchteten massiv erleichtern würde.

    Lange Wartelisten, Arbeit an der Belastungsgrenze
    Geflüchtete aus Afghanistan mussten in ihrem vom Krieg gezeichneten Land alles hinter sich lassen. Sie wollen sich hier ein neues Leben aufbauen. Die neue schwarz-gelbe Koalition in NRW legt in ihrem Koalitionsvertrag einen Fokus auf das Thema „Förderung der Integration von Geflüchteten“. Durch die unsichere Perspektive und die ständige Angst werden aber besonders Menschen aus Afghanistan in ihren Bemühungen dazu – wie im oben beschriebenen Fall – massiv zurückgeworfen. Sowohl erwachsene als auch jugendliche Geflüchtete sind davon betroffen. Der oben beschriebene Fall des 17-jährigen Klienten zeigt, dass selbst Jugendliche, die aufgrund von Integrationsleistungen eine gute Chance haben, zu bleiben, durch die Medienberichte über drohende Abschiebungen stark verunsichert werden.

    Doch nicht nur das extreme Leiden der KlientInnen, auch die Anzahl der Menschen, denen aufgrund der Abschiebedrohung der Boden unter den Füßen weggezogen wird, ist groß. Aufgrund der vielen Anfragen für psychologische und soziale Beratung sind die Wartelisten in unseren Zentren lang, die Mitarbeitenden versuchen an ihrer Belastungsgrenze wenigstens die akutesten Fälle nicht abweisen zu müssen. Gleichzeitig wird es zunehmend schwerer, rechtliche Beratung gegen die seit 2016 vielen abgelehnten Anträge zu organisieren, weil händeringend nach RechtsanwältInnen gesucht werden muss.

    Klima der Angst
    Mehr als 120.000 Menschen aus Afghanistan leben in Deutschland mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus und hoffen darauf, bleiben zu können. Lag die Schutzquote für Menschen aus Afghanistan 2015 noch bei 78 Prozent, sank sie bis Anfang 2017 auf nur noch 48 Prozent . Seit Anfang 2016 plante die EU mit Afghanistan ein milliardenschweres „Rücknahmeabkommen“, das die Abschiebung zehntausender Menschen nach Afghanistan erleichtern sollte. Faktisch wurden bislang aus Deutschland direkt in fünf Flügen 107 Menschen nach Afghanistan abgeschoben – eben auch aufgrund der schlechten Sicherheitslage. Dennoch werden zehntausende Menschen durch die mediale Abschiebeandrohung weiter verunsichert und verängstigt.

    Die Lage in Afghanistan hat sich entgegen der ehemaligen Sicherheitseinschätzung der Bundesregierung immer weiter verschlechtert. Seit 1978 herrscht in Afghanistan Krieg. In den vergangenen Jahren lieferten sich bis zu 20 terroristische Organisationen und Milizen blutige Kämpfe mit der afghanischen Regierung. Immer wieder kommt es zu Anschlägen. Im Jahr 2016 dokumentierte die UN-Mission in Afghanistan 3.500 Opfer und 7.900 Verletzte in der Zivilbevölkerung . Während die Bundesregierung seit Ende 2016 von „sicheren Gebieten“ in Afghanistan sprach, lehnen andere – auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) – solche pauschalen Einschätzungen ab. Allein zwischen März und Mai 2017 meldet die UN-Mission wieder 6,252 „sicherheitsrelevante Vorfälle“ im Land.

    Einzelne Bundesländer wie etwa Schleswig-Holstein hatten aufgrund der katastrophalen Bedingungen in Afghanistan einen Abschiebestopp verhängt, Baden-Württemberg hatte nach dem Anschlag im Mai die Abschiebung von drei Afghanen ebenfalls gestoppt, bevor klar wurde, dass der Flieger wegen des Attentats nicht abheben würde. Auch die SPD, die in der derzeitigen Koalition Großen Koalition im Bund gemeinsam mit der CDU die lückenhafte Sicherheitseinschätzung und die Abschiebungen mitverantwortet hatte, entschied vor dem Bundestagswahlkampf auf ihrem Parteitag folgende Passage ins Wahlprogramm aufzunehmen: „Da die Sicherheitslage in Afghanistan kein sicheres Leben zulässt, werden wir bis auf Weiteres keine Abschiebungen nach Afghanistan durchführen.“

    Wir, das Netzwerk Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer in NRW, fordern deshalb:

    einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan aus NRW!
    eine korrekte Sicherheitsbewertung des Landes durch das Auswärtige Amt, die nicht ignoriert, dass es keine sicheren Gebiete im Kriegsgebiet gibt!
    keine Abschiebungen nach Afghanistan bundesweit!
    eine schnelle und sichere Bleibeperspektive für Geflüchtete aus Afghanistan, um eine Verschlechterung und Chronifizierung von Traumafolgestörungen zu verhindern!

    Unterzeichnende Psychosoziale Zentren:

    Netzwerk Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer in NRW
    PSZ im Pädagogischen Zentrum PÄZ Aachen
    Psychosoziales Traumazentrum Ahlen
    Psychosoziales Zentrum Bielefeld
    Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.
    Psychosoziales Zentrum Mondial Bonn
    Psychosoziales Zentrum Dortmund
    Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf
    Psychosoziales Zentrum Hagen
    Therapiezentrum für Folteropfer Caritasverband für die Stadt Köln e.V.
    Psychosoziales Zentrum Lüdenscheid
    Psychosoziales Zentrum Mönchengladbach
    Refugio Münster – Psychosoziale Flüchtlingshilfe
    Psychosoziales Zentrum Niederrhein – Dinslaken
    Psychosoziales Zentrum Niederrhein – Moers
    Psychosoziales Zentrum Paderborn
    Psychosoziales Zentrum Siegen